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Zum Bild des "Ostjudentums" in der "westjüdischen" Publizistik der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts

von Andreas Herzog, Leipzig*


"Wann werden sie endlich zu verstehen anfangen, daß, wenn es überhaupt noch eine Hilfe für das jüdische Volk gibt, diese nur von jenen neun Millionen Ostjuden kommen kann, die nicht blutarm und nicht verschlafen und nicht exotisch, die keine entjudeten Europäer und keine welken Orientalen, sondern einfach lebende Juden sind, denen das Leben, das jüdische Leben aus Worten und Taten sprießt und spritzt?"1

Die rhetorische Frage dürfte heutige Leser inhaltlich überraschen und aufgrund der Wortwahl - "blutarm" und "entjudet" - mit Recht irritieren. Sie wurde in einem Aufsatz über die "jüdische Sprachfrage" formuliert, den Nathan Birnbaum 1913 in der Monatsschrift für jüdische Kultur und Politik "Freistatt" veröffentlichte. Der Diaspora-Nationalist Birnbaum, ein Propagandist der jiddischen Sprache, brachte den Begriff "Ostjudentum" um die Jahrhundertwende in die innerjüdische Debatten ein.

Die Bezeichnung "Ostjude" wurde seit dem Ersten Weltkrieg zwar vornehmlich im Zusammenhang mit der von den Antisemiten beschworenen "Ostjudengefahr" gebraucht; in Birnbaums Nachfolge ist sie jedoch mit positiver Konnotation verwendet worden und diente der kulturtypologischen Unterscheidung gegenüber den verbürgerlichten Juden Mitteleuropas, die sich dem noch "ursprünglichen" Leben ihres Volkes "entfremdet" hatten. In seiner grundlegenden Schrift "Was sind die Ostjuden? Zur ersten Information" räumte Birnbaum selbst die Unzulänglichkeit eines Begriffes ein, der wie "Osten und Westen für Orientierungszwecke ganz relativ" blieb. Das Wort sei "nicht so streng geographisch gemeint", sondern diene zur Abgrenzung "gegenüber einer zweiten jüdischen Hauptgruppe, den sogenannten Westjuden".2 Der 1864 in Wien geborene Birnbaum, ein Sohn galizischer Einwanderer, war ein Gegner der Assimilation an die nichtjüdische bürgerliche Gesellschaft und erhoffte sich von der noch eigenständigen Volkskultur und Lebensweise der Ostjuden eine Erneuerung des jüdischen Lebens in Mittel- bzw. Westeuropa.

Die Mehrheit der Juden Deutschlands und Österreichs hat diese Position bekanntlich nicht geteilt. Sie waren im Gegenteil stolz auf ihre Akkulturation und haben zu den osteuropäischen Juden eher herab- als heraufgeblickt. Birnbaum war mit seinen Hoffnungen jedoch keinesfalls allein. So stößt man in Werken von deutschsprachigen Schriftstellern jüdischer Herkunft wie Arnold Zweig, Franz Kafka, Alfred Döblin oder Joseph Roth auf ähnliche Bilder.3

Die folgenden Ausführungen widmen sich den Ostjuden bzw. dem Ostjudentum, wie es in den Texten deutschjüdischer Publizisten im Umfeld Birnbaums, aber auch Martin Bubers erscheint. Auch wo es sich nicht um literarische Erzählungen, sondern um Essays, Berichte, Rezensionen oder Theaterkritiken handelt, wurden die osteuropäischen Juden zu romantisierten Gegenfiguren der mitteleuropäischen Zivilisation gemacht. Im Vergleich mit ihrer kulturellen und sozialen Wirklichkeit soll gezeigt werden, daß diese mit der Realität kaum korrespondieren. Es handelt sich vielmehr um projektive Wunschbilder, die aus den Interessen der mitteleuropäischen Juden resultieren. Mit Hilfe der Ostjuden suchten die "Westjuden" nach einer neuen jüdischen Identität und verliehen ihrem Unbehagen an der modernen Kultur Ausdruck. Abschließend soll gezeigt werden, in welchem übergreifenden, nicht nur jüdischen, geistesgeschichtlichen Kontext dies stand. Zur Orientierung soll zunächst das politische und kulturelle Spannungsfeld skizziert werden, in das die Ostjuden seit Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland gerieten.

Aus wirtschaftlicher Not, in Folge von Pogromen sowie während des Ersten Weltkrieges kam es zu einer verstärkten Einwanderung osteuropäischer Juden, die zu einem Anwachsen des Antisemitismus führte. Die rechtlich gleichgestellten mitteleuropäischen Juden begannen um ihre mühsam errungene Integration zu fürchten. Die ausländischen Juden, die in Deutschland 1910 nur 13% aller Juden bildeten, erschienen ihnen als Belastung ihres Zusammenlebens mit Deutschen, Österreichern und Tschechen. Das führte nicht immer dazu, daß man sich mit ihnen solidarisierte. Viele einheimische Juden gingen auf Distanz. Mit dem wachsenden Engagement für die notleidenden Einwanderer, insbesondere während des Ersten Weltkrieges, halfen die deutschen Juden nicht nur ihren Glaubensbrüdern, sie verteidigten auch ihre rechtliche Gleichstellung und vertraten, wie noch darzulegen sein wird, auch die außenpolitischen und kulturellen Interessen Deutschlands in Osteuropa.

Ihre erste unmittelbare Begegnung mit den Ostjuden und ihrer Kultur hatten viele Deutsche während ihres Kriegsdienstes an der Ostfront. Dies führt nicht nur zu einer verstärkten Solidarisierung, sondern zu einer regelrechten "Ostjudenschwärmerei". Das im Vergleich zum 19. Jahrhundert zum Positiven gewendete Ostjuden-Bild bewirkte ein breiteres Interesse an ihren religiösen Lebensformen, ihrer Sprache und Literatur. In von deutschen und österreichischen Juden herausgegebenen Büchern und Zeitschriften bekamen auch aus Osteuropa stammende Spezialisten das Wort. Nach der schon erwähnten jüdischen Monatsschrift "Freistatt" wurde die von Martin Buber herausgegebene Kulturzeitschrift "Der Jude" seit 1916 zum wirkungsvollsten Medium, das Brücken zwischen 0st und West schlug. Die Anfänge einer intensiven Beschäftigung mit dem Ostjudentum liegen jedoch schon an der Jahrhundertwende. Sie waren insbesondere mit der Gründung des "Jüdischen Verlages" und dem Erscheinen einer illustrierten Monatsschrift verbunden, die den programmatischen Titel "Ost und West" trug.

 

I

Nur wenige Jahre nach dem ersten zionistischen Kongreß, 1897, konstituierte sich innerhalb der zionistischen Bewegung eine "Demokratische Fraktion". Sie war der Meinung, daß die politischen und diplomatischen Bemühungen um die Gründung eines Judenstaates unter der Führung Theodor Herzls, die kulturellen und geistigen Aspekte des Judentums vernachlässigten. Der Religionsphilosoph Martin Buber, der Schriftsteller Berthold Feiwel und der Graphiker Ephraim Moses Lilien gründeten deshalb im Jahre 1901 den "Jüdischen Verlag", der der Förderung jüdischer Literatur, Kunst und Wissenschaft dienen sollte. Er verfolgte vor allem ästhetische und ethische Ziele.

Mit Unterstützung jüdischer Intellektueller, die zum Teil selbst aus Osteuropa stammten, orientierte man sich am Vorbild des Volkstums, der Religiosität und der Kultur der Ostjuden. Als erste Publikation des Verlages erschien der reich illustrierte "Jüdische Almanach 5663". Er enthielt Erzählungen und Gedichte der modernen hebräischen Autoren Saul Tschernichowski, Chaim Bialik und Micha Josef Berdyczewski und der jiddischsprachigen Volksschriftsteller Scholem Alejchem und Isaak Leib Perez. Im Vorwort des Bandes formulierte Berthold Feiwel ein weitgefaßtes kulturelles Programm, das die sittliche und ästhetische Idee eines neuen Judentums beschwor. Zu den ersten Publikationen gehörte ein Buch Nathan Birnbaums über den aus Odessa stammenden Begründer des Kulturzionismus, Achad Haam, unter dessen Einfluß die "Demokratische Fraktion" von Anfang an stand. Der hebräische Autor hatte schon Ende der 1880er Jahre nicht auf die Gründung eines eigenen Staates, sondern auf die Entwicklung eines geistig und kulturell ausgerichteten modernen Judentums gedrängt, das seine Kraft nicht erst in Palästina, sondern schon in der Diaspora entfalten sollte.

Neben dem Jüdischen Verlag wurde die 1901 gegründete Monatsschrift "Ost und West" zu einem wichtigen Organ, das die deutschsprachigen Juden Mitteleuropas mit der Geschichte, den Sprachen und der Lebensweise des osteuropäischen Judentums vertraut machte. Der Titel war nicht nur geographisch, sondern programmatisch gemeint: die "kulturell auf verschiedenem Boden stehenden Elemente des Judentums" sollten einander näher gebracht werden. Die "Illustrierte Monatsschrift für modernes Judentum" bemühte sich um den Überblick über eine bewußt "jüdische" Kunst, Dichtung und Lebenskultur, wobei sie dem modernen "Ostjudentum" einen wichtigen Platz einräumte. So wurde auf in Osteuropa erscheinende jüdische Tageszeitungen und Monatsschriften hingewiesen, in denen Hebräisch Verkehrssprache war.4 Ein anderer Beitrag widmete sich der Entwicklung des "deutschjüdischen Jargons" zu einer eigenständigen Literatursprache und setzte sich für dessen Einführung als lebendige Sprache auch in Mitteleuropa ein.5 Die Familienzeitschrift wandte sich an "jedes jüdische Haus". Als gemeinsame Herausgeber fungierten interessanterweise nicht nur Zionisten wie Martin Buber und Max Nordau, sondern auch namhafte Vertreter des nach Akkulturation strebenden deutschen Judentums wie Ludwig Geiger und Hermann Cohen. Die Vermittlung des Ostjudentums erreichte über das Periodikum die unterschiedlichsten jüdischen Lage. und Parteiungen.

In den Jahren 1906 und 1908 veröffentlichte Martin Buber in mehrjähriger Arbeit gesammelte chassidische Erzählungen - "Die Geschichten des Rabbi Nachman" und "Die Legende des Baalschem" - die das Bild des Ostjudentums im Deutschland der Vorkriegszeit entscheidend prägten und Wirkung nicht nur auf jüdische Leserkreise hatten. Die Botschaft, die Buber mit den von ihm nacherzählten und kommentierten Legenden vermittelte, entsprach nicht den historischen Originalen. Sie folgte vielmehr seinen eigenen kultur- und religionsphilosophischen Bestrebungen. Buber betonte selbst, daß es ihm nicht um exakte philologische Überlieferung ging, sondern auf die Weitergabe des ekstatischen Erlebnisses und der mystischen Erleuchtung ankam, die er selbst bei der Lektüre chassidischer Geschichten erfahren hatte. Den Urenkel des Begründers des Chassidismus, Rabbi Nachman, pries er als jüdischen Mystiker, dessen religiöse Unbedingtheit sich in der ethischen Tat verwirkliche. Die unmittelbare und alltägliche Beziehung der Chassidim zum Göttlichen diente Buber als Vorbild für die Erneuerung eines modernen Judentums.

In seinen "Drei Reden über das Judentum", die er 1909-11 in Prag hielt, unternahm der Religions- und Kulturphilosoph den Versuch einer "Neudefinition jüdischer Religiosität"6, die das Judentum weder traditionell, noch als Konfession begriff. Dies übte eine nachhaltige Wirkung auf junge jüdische Intellektuelle aus, die nach einem neuen Sinn des Judentums suchten. Sie richteten sich einerseits gegen die Assimilationsbestrebungen ihrer verbürgerlichten Väter, opponierten andererseits jedoch auch gegen den organisierten Zionismus, der es für sie bei formalen Bekenntnissen beließ und lediglich politische Ziele verfolgte.7 Die jungjüdische Bewegung um Martin Buber strebte nach einer Erneuerung der jüdischen Religiosität, die gegen die Religion der Väter opponierte. Dabei bezog sie sich auf die gemeinschaftsbildende und ethische Kraft ostjüdischer Mystik.

Nathan Birnbaums Interesse am Ostjudentum war etwas anders gelagert. Er propagierte die ostjüdische Volkskultur in jiddischer Sprache und plädierte für die eine kulturnationale Autonomie der Juden nicht nur in Ost-, sondern auch in Mitteleuropa. In Auseinandersetzung mit den Verfechtern einer hebräischen Moderne, die stärker auf Palästina orientiert waren, schätzte er das Jiddische als "Ausdrucksmittel des lebendigen Volksgeistes" und wollte es deshalb zu einer allgemeinen Verkehrs- und Literatursprache machen. Auf einer "Jiddischen Sprachkonferenz", die er 1908 in Czernowitz organisierte, versuchte er dem verachteten deutschjüdischen "Jargon" zur offiziellen Anerkennung zu verhelfen.

1911 zog Birnbaum nach Berlin, wo er auf den Kreis um die "Alljüdische Revue" "Freistatt", die von Fritz Mordechai Kaufmann redigiert wurde, eine nachhaltige Wirkung ausübte. Die von 1913 bis 1915 erschienene "Alljüdische Revue" wollte sich auf fundiertere Weise mit ostjüdischer Kultur, Politik und Kunst beschäftigen als das in der bisherigen "deutschjüdischen Familien- und Parteipresse" geschehen war. Wie kein anderes deutschsprachiges Organ versuchte sie ihre Leser mit dem Jiddischen vertraut zu machen und ihnen durch osteuropäische Kenner wie den Wilnaer Publizisten und Herausgeber Moses Schalit einen Überblick über die neueste ostjüdische Literatur zu verschaffen.8 Die "Freistatt" kritisierte nicht nur die Verfechter der Assimilation, sondern auch die Zionisten, weil sie die Volkskultur des jüdischen Ostens mißachteten. Ihre Mitarbeiter lebten nicht nur in Deutschland und Österreich, sondern auch in Städten wie Wilna, Petersburg, Lemberg oder Warschau. Die Beiträge stammten von ostjüdischen Schriftstellern wie Scholem Asch oder Schmuel Josef Agnon, auf der anderen Seite aber auch von Autoren wie Arnold Zweig, Gustav Landauer oder Martin Buber. Im literarischen Teil der Revue wurde jiddische Literatur im Original und in Parallelübersetzung präsentiert, daneben erschien Lyrik und Prosa von deutschsprachigen Schriftstellern wie Max Brod, Albert Ehrenstein oder Else Lasker-Schüler. Neben einer Monatsschau über hebräische Literatur brachte die Zeitschrift wiederholt Beiträge über die Geschichte der Juden Osteuropas. Die "Freistatt" bildet einen besonders eindrucksvollen Beleg dafür, daß jüdische Schriftsteller und Intellektuelle schon vor dem Ersten Weltkrieg um einen Brückenschlag zwischen "ostjüdischer" und "westjüdischer Kultur" bemüht waren.

Ihr aus der Eifel stammender Herausgeber, Fritz Mordechai Kaufmann, war in der Zionistischen Ortsgruppe in Leipzig, wo er 1910-1912 studierte, mit ostjüdischen Einwanderern in Kontakt gekommen, von deren Kultur er sogleich fasziniert war. Unter dem Einfluß Birnbaums, der auch in Leipzig Vorträge gehalten hat, kehrte er dem Zionismus den Rücken und wurde zu einem der engagiertesten Propagandisten ostjüdischer Literatur und Volksmusik. Kaufmann war auf der Suche nach einer Musikalität, die sich von deutschen Liedern klar unterschied. Von sich selbst sagte er, daß er durch ostjüdische Volkslieder "wesenhafte Vorstellungen und Erlebnisse" vermittelt bekommen habe und zu seinem Volk zurückgefunden habe.9 In einem Essay über ostjüdische Dichtung und Kultur verglich er den "unverwechselbaren" Tonfall des jiddischsprachigen Originals von Mendele Mocher Sforims "fischke der krimer" mit der Übertragung des bekannten Übersetzers Alexander Eliasberg "Fischke der Krumme" und kam zu dem Ergebnis, daß sie leider nur "tonlos", "logisch" und "glatt" sei:

Ob Eliasberg aus diesen Bemerkungen die Lehre ziehen wird, in Zukunft östlichen Dichtungen fernzubleiben und sich lieber mit der jiddischen Publizistik zu begnügen, als mit Werken, die durch eine saloppe Verdeutschung weniger diskreditiert werden können? Ich hoffe es sehr.10

Das Interesse an ostjüdischer Kultur und Literatur erreichte in den Jahren 1916-20 seinen absoluten Höhepunkt, was sich mit der großen Zahl von Einzelausgaben und Anthologien belegen ließe. "

Seit 1916 kann Martin Bubers Kulturzeitschrift "Der Jude" als das wichtigste Periodikum gelten, das als "unabhängiges Organ für die Erkenntnis und Förderung eines lebendigen Judentums" insbesondere auch von der ostjüdischen Kultur Zeugnis ablegen wollte. In einem programmatischen Text für das Prospekt des ersten Heftes des "Juden" formuliert Leo Herrmann, daß man darzustellen versuche, "was an lebendiger Kraft, politischer Bedeutung, wirtschaftlichem Wert, kultureller Leistung, religiöser Inbrunst im Judentum, und vornehmlich im Ostjudentum ruht."12 Im ersten Jahrgang veröffentlichte Martin Buber einen aus dem Jahre 1903 stammenden Brief Achad Haams, in dem dieser für eine geistige Synthese von "Ost und West" plädiert hatte. Er kritisierte, daß der zionistischen Bewegung des Westens die geistige Basis fehle, da sie sich nur am Haß des Antisemitismus aufgerichtet habe und ihr kein "inneres Erwachen" vorausgegangen sei.13

Neben Übersetzungen von Texten zeitgenössischer Schriftsteller, die aus dem Jiddischen oder dem Hebräischen übersetzt wurden, bot die Kulturzeitschrift, in der die wichtigsten jüdischen Autoren der Zeit publiziert haben, kenntnisreiche Betrachtungen über das religiöse Leben und die Volkskultur, die Sprachen und die Literatur der osteuropäischen Juden. Darüber hinaus widmete sie sich ihrer sozialen Situation wie der politischen Debatte um die Kriegsflüchtlinge und die Frage der Schließung der preußischen Ostgrenze. Bis in die zwanziger Jahre beschäftigte sich "Der Jude" mit der "Ostjudenfrage" und den unterschiedlichsten Aspekten des "Ostjudentums". Neben Übersetzungen chassidischer Texte, talmudischer Legenden und moderner Literatur wurden zahlreiche theoretische Betrachtungen veröffentlicht, die sich mit der ostjüdischen Volks- und Religionskultur auseinandersetzten. Lazar Abramson schrieb über "Die ostjüdische Gemeinde"14. Samuel Abba Horodezky, einer der besten Kenner des Chassidismus,15 der sich nach den Pogromen 1905/06 zunächst in der Schweiz angesiedelt hatte, stellte das "Gemeinschaftsleben der Chassidim"16 dar. Meir Wiener versuchte mit Essays wie "Das Wesen des jüdischen Gebets"17 oder "Die Psychologie der Legende"18 eine religionsphilosophische Interpretation jüdischer Mystik. In den Jahrgängen 1916-1920 bot Samuel Rappaport eine außerordentlich informative Serie über die Stellung von Sabbat, Erziehung und Ehe im religiösen Leben der Ostjuden.19

Zur einer direkten Begegnung mit Ostjuden kam es im Rahmen der von westjüdischen Intellektuellen organisierten Bildungsarbeit, über die im "Juden" eine ganze Reihe von Artikeln erschienen. Damit sich die hilfsbedürftigen Einwanderer, unter denen viele Jugendliche waren, ihren Lebensunterhalt selbst verdienen konnten, schufen die deutschsprachigen Juden entsprechende Bildungseinrichtungen. Das "Arbeiterfürsorgeamt der Jüdischen Organisationen" folgte den Bestrebungen des "Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens". Es verfolgte im Blick auf die Ostjuden keine nationaljüdischen Ziele, sondern suchte die Interessen der Juden und Deutschlands in Einklang zu bringen. Im Mittelpunkt seiner Bemühungen stand die berufliche Schulung der nur ungenügend ausgebildeten ostjüdischen Einwanderer und ihre Umlenkung in industrielle Berufe,20 was den Aufbau selbständiger wirtschaftlicher Existenzen ermöglichen sollte. Durch eine auf "Produktivierung" zielende Berufsumschichtung insbesondere der Kleinhändler sollte dem Antisemitismus entgegengewirkt und die Beziehung zwischen Juden und Deutschen entlastet werden.21

Die nationalkulturellen Bemühungen der Intellektuellen um Bubers "Juden" unterschieden sich deutlich von den Bestrebungen des Centralvereins. Sie zeigen, daß auch nichtreligiöse Juden im Ostjudentum eine "geistig-sittliche Unschuld [suchten], die die deutschen Juden angeblich verloren hatten, als sie sich im Zuge ihrer Emanzipation die egoistischen Ambitionen und Eitelkeiten der modernen Welt zu eigen machten"22. Dem von Siegfried Lehmann gegründeten "Jüdischen Volksheim" im Berliner Scheunenviertel ging es nicht nur um die praktische Wohlfahrtspflege und Erziehung gefährdeter und verwahrloster junger Einwanderer zu eigenverantwortlicher Arbeit, sondern um eine bewußt "jüdische Kulturarbeit", die nicht nur den Ostjuden, sondern auch den Westjuden zugute kommen sollte. Das im Mai 1919 gegründete Volksheim war als Begegnungsstätte gedacht, mit deren Hilfe die hier tätigen deutschjüdischen Akademiker, Künstler und Sozialarbeiter zum jüdischen Volksleben zurückzufinden hofften. Der Reformpädagoge Siegfried Bernfeld verfolgte zur gleichen Zeit in Wien ganz ähnliche Bestrebungen.23 Unter dem Einfluß des Marxismus verstand er die "jüdische Renaissance" als antibürgerliche Bewegung.

Die ostjüdische Jugend, die Avantgarde einer gerechten Gesellschaft, wurde zu einem geistig-kulturellen Leitbild. Aus ihrem "Wesen" und der "Idee jüdischer Kultur" leitete Bernfeld die Aufgaben einer nationalen Erziehung ab. Die jüdische Sprache bekam die Funktion eines "inneren Bildners".24

Bei der Faszination, die Kafkas Nachlaßverwalter Max Brod bei seiner Begegnung mit Ostjuden erfuhr, spielte ohne Zweifel eine Rolle, daß diese weiblich und jung waren. Als Kursleiter für Weltliteratur im "Ostjüdischen Schulwerk" Prags machte er die Beobachtung, daß von den bildungseifrigen 15 bis 19-jährigen ostjüdischen Mädchen eine bezaubernde Frische und Naivität ausgehe. Eine "wahrhaftige Naivität des Geistes" wie eine "innige Mischung von Natürlichem und Erhabenem" sei ihnen eigen. In Aufzeichnungen, die ebenfalls in Bubers "Juden" veröffentlicht wurden, pries der Schriftsteller die noch ursprüngliche, geistige Volksgemeinschaft der Ostjuden, die er der künstlichen und individualistisch zersplitterten Existenz der mitteleuropäischen Juden entgegen hielt:

"Ich habe ein Volk, eine Gemeinschaft vor mir, nicht zersiebte Individuen. Ein Volk, das im höchsten Sinne geistig und dabei dennoch volkstümlich, also ungekünstelt, unverbraucht ist."25

Von Max Brod soll ein kurzer Blick auf das Ostjuden-Bild weiterer deutschsprachiger Schriftsteller geworfen werden, das dem sehr ähnelt. Brods Freund Franz Kafka gehörte zu den jüdischen Autoren und Kritikern, welche das Ostjudentum durch Theateraufführungen von Wandergruppen kennenlernten, die Stücke in jiddischer Sprache spielten. Man war tief beeindruckt, weil sich das fremdartige Spiel und die unmittelbaren Reaktionen der ostjüdischen Besucher von westlichen Theateraufführungen stark unterschied.26 Die Begegnungen mit der Wanderbühne Jizak Löwys haben Kafka so sehr beschäftigt, daß er sie auf vielen Seiten seines Tagebuches detailliert beschrieben hat. Als Einleitung eines Rezitationsabends des Schauspielers Löwy, mit dem sich der damals noch unbekannte Kafka befreundete, hielt er am 18. 2. 1912 im Festsaal des jüdischen Rathauses Prag ein Plädoyer für die jiddische Sprache. Er vertrat hier die Auffassung, daß die ihrem Volk entfremdeten bürgerlichen Juden den Jargon des Ostens "fühlend verstehen" können.27 Wie Nathan Birnbaum, Fritz Mordechai Kaufmann oder Siegfried Bernfeld, betrachtete Kafka die Volks- und Verkehrssprache der Ostjuden als eine Kraft, welche der geistigen Einigung des jüdischen Volkes dienen konnte.

Wie keine andere Schrift stellt Arnold Zweigs Essaybuch "Das ostjüdische Antlitz", das mit 52 Zeichnungen Hermann Strucks versehen im Jahre 1920 im zionistischen Welt-Verlag veröffentlicht wurde, eine Glorifizierung des Ostjudentums dar. In der "sittlichen Reinheit", welche die ostjüdische Jugend auszeichne, sah der deutsche Schriftsteller, der seit dem Ersten Weltkrieg unter Bubers Einfluß stand, die ethischen Werte des religiösen Judentums fortleben. Ähnlich wie für Bernfeld diente das der Suche nach einer sozialen und politischen Alternative zur bürgerlichen Gesellschaft. Zweig postulierte, daß den Ostjuden ein besonderer "Trieb" zu Kameradschaft und Nächstenliebe und eine "angeborene" Distanz zur egoistischen Welt des Besitzes eigen sei:

"Sein innerstes Wesen bejaht er, wenn er Sozialist ist. Nur ein Jude kann die Weite des Abfalls ermessen, den der kapitalistische Mensch getan hat."28

Zweigs Essay lag die unmittelbare Begegnung mit der ostjüdischen Lebensweise und Kultur während seines Kriegsdienstes zugrunde. In der Presseabteilung des Oberkommandierenden der Ostfront trafen in den Jahren 1916 und 1917 deutsche Künstler und Schriftsteller zusammen, die unabhängig voneinander über ihre Begegnungen mit dem Ostjudentum berichteten. Zu diesen gehörte auch der Berliner Rechtsanwalt Sammy Gronemann, der seine "Erinnerungen an die ostjüdische Etappe" im Jahre 1924 unter dem Titel "Hawdalah und Zapfenstreich" im Jüdischen Verlag veröffentlichte. Ganz anders als Arnold Zweig berichtete er in anekdotischer und ironischer Form auch über das Unverständnis, mit dem die deutsche Heeresführung seinen östlichen Glaubensbrüdern begegnete. Daß seine Erinnerungen nicht zu einer romantischen Glorifizierung der Ostjuden wurden, liegt vor allem daran, daß er ihre erschütternde Armut ausführlich beschrieb. Wie später übrigens Alfred Döblin29 nahm er die Ostjuden trotz der großen Unterschiede zwischen Religiösen, Sozialisten und Zionisten als eigenes, geschlossenes Volk wahr. Als Zionist fühlte sich Gronemann den jungen Arbeitern und Chaluzim verbunden, die sich in Palästina eine bessere Zukunft aufbauen wollten. Dennoch meinte auch er, daß die besondere "Geistigkeit" der religiösen Ostjuden dem "Materialismus des Westens" weit überlegen sei. Zu den interessantesten Kapiteln von "Hawdalah und Zapfenstreich" gehört, was der Sohn eines Rabbiners, der vor seinem Jura-Studium Talmud studiert hatte, über die "Synagoge des Ostens" zu berichten wußte.30

Berühmt geworden ist der Essay "Juden auf Wanderschaft", in dem Joseph Roth die Situation der Ostjuden in den europäischen Großstädten sowie in Amerika und Sowjet-Rußland beschrieben hat und einen wehmütigen Blick auf das Leben in den jüdischen Städtchen zurückgeworfen hat. Schon im Vorwort betont der Journalist und Schriftsteller den bewußten Verzicht auf jegliche wissenschaftliche Objektivität und Sachlichkeit. Da das 1927 veröffentlichte Buch relativ bekannt ist, soll lediglich darauf verwiesen werden, wie weitgehend es ein bereits vorhandenes Ostjuden-Bild bestätigte. Der "gezähmten Bestialität der Westeuropäer" sowie der hygienischen und tödlichen Langeweile der Zivilisation stellt der selbst aus Galizien stammende Autor die "Menschlichkeit und Göttlichkeit" der noch "echten und unberührten" Ostjuden gegenüber.31 Für Roth hatten die osteuropäischen Juden die moralisch-geistigen Kräfte von Naturmenschen; ein unmittelbarer, herzensfrömmiger Glaube sei ihnen eigen.

In Rückkehr zu Bubers "Juden" soll auf zwei Aufsätze verwiesen werden, die zeigen, daß die Zeitschrift auch antizionistisch eingestellten Autoren das Wort erteilte. Bubers Freund, der Sozialphilosoph und Anarchist Gustav Landauer setzte sich in einem 1916 veröffentlichten Aufsatz über "Ostjuden und Deutsches Reich" mit antisemitischen Schriften auseinander, welche Ausnahmegesetze gegen die rechtlosen Einwanderer gefordert hatten. Dabei beschwor er aber auch die mythische Kraft, die aus den von "Ehrwürde und Anmut umflossenen Gestalten des östlichen Judentums" komme. Eine Rettung des jüdischen Volkes könne nur aus der Religiosität der Ostjuden kommen. Die notwendige Erneuerung, die nicht erst in Palästina, sondern bereits in Deutschland zu verwirklichen sei, basiere auf der materiellen und politischen Not der Ostjuden und auf der geistigen Armut und Fremde der Juden Mitteleuropas.32

Einen vollkommen anderen Blickwinkel zeigt ein Beitrag des Neukantianers Hermann Cohen, eines der wichtigsten Repräsentanten des deutschen Judentums, der sich in Bubers Zeitschrift über den polnischen Juden äußerte. Cohen betrachtete die Juden als Nationalität, die jeweils der Nation angehören, deren Staatsbürger sie sind. Sein Blick auf die Ostjuden war von einem aufgeklärten, rationalistischen Judentum bestimmt, das sich den Ideen der deutschen Kultur verpflichtet fühlte. Unter dem Eindruck des Antisemitismus hatte sich der emeritierte Ordinarius für Philosophie schon vor dem Krieg an der praktischen Bildungsarbeit für die Ostjuden beteiligt. Vom Triumph der deutschen Waffen versprach er sich die Wiederherstellung der Menschenwürde seiner Glaubensbrüder, die unter dem russischen Joch litten. Dabei setzte er sich aber auch für die Möglichkeit der freien Einwanderung nach Deutschland ein. Als Angehöriger einer älteren Generation verteidigte er eine gedanklich objektivierte "Religion der Vernunft" gegen die romantisierte Mystik des Ostjudentums. Während sich der 36 Jahre jüngere Buber aus der Frömmigkeit des Ostens die kulturelle Erneuerung Europas erhoffte, wollte Cohen die Ostjuden an die "Wissenschaft des Judentums" sowie an "deutsche Art" und "Gewissenhaftigkeit" heranführen. In einer Nachbemerkung begrüßte die Redaktion des "Juden", daß sich der geistige Führer der deutschen Juden für die freie Einwanderung der polnischen Juden aussprach. Gleichzeitig wurde betont, daß man "über das Wesen eines lebendigen Judentums und über die Mittel zu seiner Erhaltung ganz anders denke(n) als Hermann Cohen"33.

 

II

Wie bereits festgestellt, ist mit der Bezeichnung "Ostjude" ein kultureller "Typ"34 gemeint, der aus der Perspektive des westlicher gelegenen Europa geprägt wurde. Steven A. Aschheim, der eine umfangreiche Studie über die Entwicklung des Ostjudenbildes im Bewußtsein des deutschsprachigen Mitteleuropa vorgelegt hat, hat die wechselseitige Abhängigkeit des Begriffes "Ostjude" mit dem des "deutschen Juden" auf folgenden Punkt gebracht:

"The 'Ostjude' and 'German Jew' were archetypal representations of the dichotomy, major actors in a new kind of confrontation marked by both tension and creativity. Mirror opposites, they remained bound to each other."35

Die dem Begriff zugrundeliegende Typologisierung ist relativ. Die polnischen Juden, von den Deutschen als "Ostjuden" betrachtet, betrachteten ihrerseits die von ihnen verachteten litauischen Juden als "Ostjuden". "Ostjude" war somit nicht nur als geographischer, sondern als kulturtypologischer Begriff zu verstehen, mit dem unterschiedliche Entwicklungszustände und Bewertungen verbunden wurden.36 Während er die Juden Polens, Rußlands, Galiziens und Rumäniens zu einem Typus zusammenfaßte, meinte er nicht die stärker assimilierten Juden Böhmens, Mährens und Ungarns oder der östlichen Landesteile Preußens.

Mit Ostjuden und "Ostjudentum" meinte man eine Kultur, die von der jiddischen Sprache und der mystischen Glaubensströmung des Chassidismus geprägt war. Als äußere Kennzeichen gelten oft Kaftan, Bart und Schläfenlocken. Wie dargelegt, basierte das Ostjuden-Bild mitteleuropäischer Schriftsteller und Intellektueller jedoch vor allem auf "inneren Merkmalen" und Werten. Daß diese kaum verifizierbar sind, ist auch auf die umfassenden Umbrüche zurückzuführen, denen das osteuropäischen Judentum zu Beginn des 20. Jahrhunderts unterworfen worden war. Zwar erfolgte die Säkularisierung Osteuropas im Vergleich zu Mitteleuropa mit beträchtlicher Verspätung: Das kulturelle, soziale und religiöse Leben seiner Judenheit hatte seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts jedoch schon einen so großen Wandel erfahren, daß das Weiterleben einer eigenständigen, traditionellen Kultur in Frage gestellt war. Wegen des Verfalls des Handwerks wanderten viele Bewohner der jüdischen Stetl auch innerhalb Polens in die modernen Industriestädte Warschau und Lodz ab. Neben der Modernisierung veränderte insbesondere eine beträchtliche Verarmung die traditionelle Kultur- und Sozialstruktur.

Trotz der damit verbundenen Differenzierungen läßt sich dennoch sagen, daß sich die Ostjuden im Vergleich zu Mitteleuropa eine kulturelle Eigenständigkeit erhielten. Mit der Entwicklung einer (ost-)jüdischen Volkskultur und der Herausbildung einer modernen Literatur in jiddischer und hebräischer Sprache formierte sich jenseits des Ghettos nunmehr aber auch eine eigenständige Nationalkultur, auf die sich die "westjüdischen" Intellektuellen ganz entscheidend bezogen. Aus diesen Gründen sollte man nicht generalisierend von der "Erfindung der Ostjuden" als eines "Kunstproduktes" sprechen.37

Um zu veranschaulichen, wie autonom das jüdische Leben im Osten blieb, sollen einige demographische Angaben genannt werden: 1897 gaben 84% aller Warschauer Juden - das war fast ein Drittel der Einwohner der Stadt - Jiddisch als Muttersprache an. Im russischen Ostpolen, im unter österreichischer Herrschaft stehenden Galizien und in Podolien stellten die Juden im Durchschnitt ein Fünftel der Bevölkerung; in Städten wie Bialystok, Brody, Buczacz oder Sadagora bildeten sie sogar die Mehrheit. Trotz zunehmender Industrialisierung blieben die meisten hier lebenden Juden ihren traditionellen Tätigkeiten treu. Da überdies zwei Drittel weiterhin der chassidischen Glaubenströmung anhingen, scheint es wissenschaftlich legitim, auch noch für das 20. Jahrhundert vom Ost-Judentum zu sprechen. Es bedarf dabei allerdings stets der Differenzierung, wer oder was jeweils damit gemeint ist.

Mit Recht wird die Geschichte der Ostjuden vor allem mit der Frömmigkeitsbewegung eines spezifischen Chassidismus verbunden, den es in dieser Form nur in Osteuropa gab. Im ausgedehnten Gebiet zwischen Warschau, Krakau, Czernowitz und Kiew war er seit Ende des 18. Jahrhunderts die vorherrschende Glaubensströmung. Die vom Baal Schem Tow begründete Glaubenslehre kann als Erweckungsbewegung charakterisiert werden, die sich von den Lehren der rabbinischen Orthodoxie abkehrte und eine vom ekstatischen Gefühl durchdrungene unmittelbare Beziehung zu Gott ins Zentrum der Religiosität stellte. Mehr als durch gelehrte Talmudauslegungen, ließ sich Gott für die Chassidim im enthusiastischen Gebet, in Gesang und Tanz erfahren. In seiner Darstellung der Hauptströmungen der jüdischen Mystik hob Gershom Scholem hervor, daß die Glaubensbewegung ihre Zentren in den Kreisen der weniger Gelehrten fand und die Chassidim ihr ganzes Leben auf die "persönliche Religiosität" ihres von Gott erweckten Führers ausrichteten. Ihre mystischen Theorien kamen aus dem Schatz der mittelalterlichen Kabbala, hatten im Osteuropa des 18. und 19. Jahrhunderts jedoch "einen populären Anstrich" erhalten.38

Das von europäischen Intellektuellen gesuchte Ideal-Bild frommer Ostjuden, die eine innige Seelenbeziehung zu ihrem Gott hatten, stand im Widerspruch zu der schlimmen wirtschaftlichen und politischen Lage, unter der die Ostjuden zu leiden hatten. Infolge einer Wirtschaftskrise am Ende des 19. Jahrhunderts verelendeten viele Handwerker; die gesetzliche Beschneidung von Aufenthalts- und Gewerberechten, der limitierte Zugang zur Universität und vor allem Pogrome zwangen seit den achtziger Jahren drei Millionen Juden das russische Reich zu verlassen. Etwa ein Viertel der Ostjuden war am Ende des Jahrhunderts vollkommen verarmt. Als Volk ohne Land und Recht wurden sie von den Nationalitäten, unter denen sie lebten, diskriminiert. In der Hoffnung auf ein besseres Leben wanderte bis zum Ersten Weltkrieg jeder Fünfte aus Osteuropa aus.39

Nur wenige Jahre nach der großen Auswanderungswelle, welche von den Pogromen 1905-07 ausgelöst wurde, wurde der Kern ihres Siedlungsgebietes zum Schlachtfeld der europäischen Großmächte. Allein 400 000 galizische Juden, fast doppelt so viele wie in den Jahrzehnten zuvor, wanderten in Folge des Ersten Weltkrieges aus. Der Friedensschluß bedeutete kein Ende der Bedrohung: In der Krise der Nachkriegszeit hatten die Juden in den neuentstandenen Nationalstaaten Ost- und Mitteleuropas unter einem gewachsenen Antisemitismus zu leiden. In den militärischen Auseinandersetzungen um die Ukraine und im Krieg zwischen Polen und Sowjetrußland gerieten sie erneut zwischen die Fronten.

Angesichts der Dimensionen, welche die Auswanderung während und nach dem Ersten Weltkrieg erreichte, muß hervorgehoben werden, daß sich nur ein verschwindender Bruchteil in Deutschland niederließ. Von der Gefahr einer "Überfremdung" Deutschlands konnte keine Rede sein.40 Auf ganz Deutschland bezogen betrug der Bevölkerungsanteil der osteuropäischen Juden gerade mal 0,1%. Was sie zum Gegenstand der Aufmerksamkeit werden ließ, war ihr auffälliges Erscheinungsbild und ihre Konzentration in bestimmten Stadtvierteln von Berlin, Leipzig, Frankfurt oder Köln. Die meisten Ostjuden befanden sich nur auf der Durchreise vor allem nach Amerika41 oder waren als Studenten nur vorübergehend in Deutschland ansässig.

Wie eine umfassende Studie über die "Unwelcome Strangers" feststellte, waren die osteuropäischen Juden in keinem anderen westlichen Land so sehr von der Gnade und der Willkür staatlicher Behörden abhängig wie im Deutschen Reich.42 Mit zeitlich befristeten Aufenthaltsgenehmigungen war ein Instrument geschaffen worden, sie ohne Begründung später ausweisen zu können. Wie sehr ihre vorübergehende Duldung von den politischen und wirtschaftlichen Interessen Deutschlands abhängig blieb, zeigt die Tatsache, daß zur Stützung der deutschen Kriegswirtschaft zehntausende jüdische Gastarbeiter ins Land geholt wurden,43 die Deutschland bis 1923 jedoch fast alle wieder verlassen mußten. Selbst diejenigen, die jahrzehntelang in Deutschland lebten, konnten in den seltensten Fällen die deutsche Staatsbürgerschaft erwerben. Das galt auch für ihre hier geborenen Kinder.

Schon eingangs wurde betont, daß das positive Ostjuden-Bild nationaljüdisch gesinnter Publizisten keinesfalls repräsentativ für die Mehrheit der deutschen Juden war. Ungeachtet der materiellen Unterstützung, welche sie den Einwanderern und Flüchtlingen boten, hielten sie zu ihren östlichen "Glaubensbrüdern" deutliche Distanz. Als Geschäftsleute, Selbständige oder Akademiker gehörten sie dem bürgerlichen Mittelstand an und waren stolz auf ihre Akkulturation an die deutsche Gesellschaft. Ihre Beziehung zum Judentum beschränkte sich nicht selten auf die bloße Zugehörigkeit zur mosaischen Konfession, die für viele nur noch an den höchsten Feiertagen Bedeutung bekam. Im Unterschied zu antibürgerlich gesinnten jungen Intellektuellen und Künstlern fühlten sich die meisten bürgerlichen Juden Deutschlands den "Kaftan-Juden" und "jiddelnden Hausierern" wenig verbunden. Unter dem Druck des Antisemitismus mußte ihnen das Auftreten der ostjüdischen Vettern, die als Juden auffielen und osteuropäische Sitten mitbrachten, eher peinlich sein. Der Historiker Ludger Heid, der sich neben Trude Maurer44 am intensivsten mit der Geschichte der Ostjuden in Deutschland beschäftigt hat, stellt fest:

"Für die Westjuden verkörperten die Ostjuden ein zweifelhaftes, unangenehmes Relikt der Vergangenheit, wovon man sich entfernen und woran man nicht mehr erinnert werden wollte. Das Ärgste war ihnen, daß sich die nichtjüdische Umwelt wieder an ihre - der deutschen Juden - jüdische "Vergangenheit", kurz, an ihr "Anderssein" erinnerte."45

Die Mehrheit der reichsdeutschen Juden fühlten sich vom "Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens" vertreten, der ihre rechtliche Gleichstellung verteidigte und politische und religiöse Anschauungen als privat betrachten wollte. Darüber hinaus bekannte er sich zur "unbeirrten Pflege deutscher Gesinnung". Aufgrund des im Ersten Weltkrieg stark gewachsenen politischen Antisemitismus46 mußten die deutschen und österreichischen Staatsbürger das "Judentum" jedoch nicht mehr nur als Religions- sondern zunehmend auch als "Schicksalsgemeinschaft" begreifen. Der Widerstand gegen die "Phrasen von einer ostjüdischen Gefahr" war auch mit Leipzig verbunden. Felix Goldmann, einer der führenden Köpfe des "Centralvereins", der 1917 Rabbiner der liberalen Gemeinde Leipzigs wurde, suchte zwischen den deutschen und den ausländischen Juden Brücken der Verständigung zu bauen. In mehreren Schriften hat er sich mit dem Antisemitismus und der "Ostjudenfrage" auseinandergesetzt.47 In der "Jüdisch-liberalen Zeitung" des Jahres 1921 forderte Goldmann, daß Deutschland den Flüchtlingen Schutz vor den Pogromen und vorübergehenden gesetzlichen Aufenthalt gewähren müsse. Damit wollte er nicht nur seine östlichen Glaubensbrüder, sondern auch die Ehre der deutschen Kulturnation verteidigen, der er sich verpflichtet fühlte.

Ein markantes Beispiel, wie sehr selbst die Zionisten - die bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges ebenfalls ein Treuebekenntnis auf die deutsche Nation abgelegt hatten - ihr Engagement für die Ostjuden mit den Angelegenheiten Deutschlands verknüpften, ist das im August 1914 auf Initiative Max Bodenheimers gegründete "Komitee für den Osten". Es setzte sich für die Befreiung der russischen Juden ein und vertrat die Idee eines osteuropäischen Staates unter deutscher Schutzmacht, in dem die Ostjuden als nationale Minderheit leben konnten. Daß es seinen Glaubensbrüdern nicht erst nach ihrer Einwanderung in Deutschland, sondern bereits in ihrer osteuropäischen Heimat helfen wollte, hatte einen doppelten Grund. Zum einen, sollte das Verhältnis zwischen Deutschen und Juden von einer gefährlichen Belastung durch die Flüchtlinge freigehalten werden. Zum anderen, sah man in den jiddischsprechenden Ostjuden Pioniere der deutschen Kultur48 und politische Alliierte, die Deutschland als Sperrspitze gegen den russischen Feind dienen konnten. Mit Hilfe des den Deutschen angeblich kulturverwandten "ostjüdischen Volkselements" sollten die deutschen Heere bis zum Dnjepr vorrücken.49 Das "Komitee für den Osten", zu dem auch Nichtzionisten wie Hermann Cohen gehörten und dessen inoffizielles Organ die "Neuen jüdischen Monatshefte" waren,50 belegt, wie sehr sich selbst deutsche Zionisten dem Deutschtum zugehörig fühlten. Sie betrachteten den Zionismus als philanthropische Bewegung zur Hilfe für die osteuropäischen Juden und machten ihre Glaubensbrüder zu Figuren der politischen und kulturellen Interessen Deutschlands. Das rief den Widerspruch nationaljüdisch gesinnter und stärker linksorientierter Zionisten hervor. Unter Bezug auf die Arbeit "des Komitees" schrieb der Sekretär der Zionistischen Vereinigung für Deutschland, Julius Berger, in Bubers "Juden":

"Der Geist der Bevormundung ist es, der das Werk der deutschen Juden an ihren polnischen Brüdern charakterisiert, dem die polnischen Juden lediglich als ein Objekt der Behandlung erscheinen..."51

Auf Initiative der SPD-Parlamentarier Max Cohen-Reuß und Oscar Cohn war Julius Berger im Ersten Weltkrieg als Leiter der "jüdischen Abteilung der Deutschen Arbeiterzentrale" in Warschau tätig, von wo er die jüdische Zwangsarbeit in den besetzten Gebieten bekämpfte und interessierte ostjüdische Arbeiter in Arbeitsverhältnisse vermittelte, die ihm rechtlich und finanziell menschenwürdig erschienen. In einem Bericht über seine Tätigkeit zeigte er sich jedoch nicht nur als Sozialarbeiter, sondern auch als Ostjuden-ldeologe. Mit dem persönlichen Verhältnis der besonders individuell veranlagten Persönlichkeiten zu ihrer Arbeit beschwor Berger den "werdenden Typ" eines neuen Arbeiters, der "die entpersönlichte Arbeit wieder in ein Verhältnis zum Individuum" gebracht habe: Glücklicherweise hätten die Ostjuden keinen Respekt vor der hierarchischen Ordnung und Unterordnung, die in deutschen Unternehmen herrsche; ihre Arbeit sei vielmehr ganz auf den Geist gegründet. Der Ostjude ist "fleißig, mäßig, alkoholischen und sexuellen Exzessen abgeneigt", die Arbeit sei ihm "sozusagen Religion". Im Unterschied zu den europäischen und amerikanischen Proletariern, die Arbeitssklaven seien, bliebe der Ostjude "Herr" seiner Arbeit, sie unterjoche ihn nicht.52 In Bergers Bild begegnet uns das "ostjüdische Antlitz", das Arnold Zweig zur gleichen Zeit beschwor.

Nach einer kurzen Zusammenfassung sollen die Bilder vom Ostjudentum deutschjüdischer Schriftsteller und Intellektueller in den geistesgeschichtlichen Kontext gestellt werden, in dem sie erst richtig zu verstehen sind. Im Diskurs antibürgerlich und modernekritisch gesinnter Publizisten wurde das Ostjudentum zum Vor-Bild einer jüdischen Volksidentität und zu einer kulturellen Gegenfigur gemacht, die sich durch Eigenschaften wie "Ursprünglichkeit", "Geistigkeit", "Innerlichkeit", "Sittlichkeit" und "Gemeinschaftlichkeit" auszeichnete. Dieses Wunschbild entsprach nicht der Wirklichkeit, zumal in Osteuropa spätestens am Ende des 19. Jahrhunderts Wandlungs- und Differenzierungsprozesse eingesetzt hatten, welche das traditionelle Ostjudentum auflösten. Die Ostjuden bildeten keine homogene Gruppe. Sie stammten aus unterschiedlichen sozialen Schichten, zu ihnen gehörten nicht nur Kleinhändler, sondern auch Großkaufleute, nicht nur Handwerker, sondern auch Studenten. Im Zuge der Säkularisierung wandte sich insbesondere die Jugend vom Chassidismus und der religiösen Orthodoxie ab und dem Zionismus und sozialistischen Strömungen zu. Stärker als in anderen europäischen Ländern oder den USA paßten sich die ostjüdischen Einwanderer in Deutschland an die bürgerliche Kultur an. Die Bewahrung der traditionellen Lebensweise war für den erstrebten sozialen Aufstieg hinderlich, überdies hatten sie von der deutschen Kultur meist ein sehr positives Bild. Auf der anderen Seite wurde mit Hilfe entsprechender Institutionen und Vereine die Kultur des Ostjudentums auch in Deutschland und Österreich weiter gepflegt. Seit der Jahrhundertwende wurden zahlreiche orthodoxe Synagogen und chassidische Betstuben eröffnet. Obwohl sie auch in Deutschland eine deutlich unterscheidbare Sozialgruppe blieben, hatte die nach Deutschland gekommene oder hier aufgewachsene ostjüdische Jugend jedoch keine Sehnsucht nach der Lebensweise ihrer Vorfahren. Relativ schnell entfremdete sie sich der Volkskultur und den besonderen Religionsformen der Ostjudentums. Das mußten sich letztlich auch diejenigen mitteleuropäischen Juden eingestehen, die sich mit Hilfe der Ostjuden eine nationale, kulturelle und religiöse Renaissance des Judentums erhofften.

Fritz Mordechai Kaufmann beklagte beispielsweise, daß die eingewanderten ostjüdischen Musiker unter den Einfluß deutscher Gesangvereine gerieten, während sie ihr eigenes Liedgut mißachteten. Ältere Ostjüdinnen, von denen er sich die Lieder ihrer Jugend vorsingen lassen wollte, mußte er dazu erst mühevoll überreden.53 Der Rabbiner Max Eschelbacher beklagte, daß die im Ruhrgebiet lebenden jungen Proletarier kaum die Synagogen und Betstuben besuchten.54 Auch die meisten Zöglinge von Siegfried Bernfelds Wiener Kinderheim waren "assimilatorisch eingestellt". Sie wollten vor allem Deutsch lernen und als Juden möglichst nicht mehr erkennbar sein. Die Enttäuschung über die schnelle Anpassung an deutsche Sitten ließ den Leiter des "Jüdischen Volksheims" Siegfried Lehmann 1920 von Berlin nach dem litauischen Kaunas (Kowno) ziehen. Wer in den europäischen Städten eine neue Existenz suchte, gehörte für ihn nicht mehr zu dem "jüdischen Volk", das Lehmann gesucht hatte.55

Das Interesse am Ostjudentum war genau betrachtet weder religiös noch nationaljüdisch motiviert, es ist vor allem als Kritik an der modernen Kultur Mitteleuropas zu verstehen. Die jüdische Renaissance um Martin Buber steht in einem kulturphilosophischen Interpretationszusammenhang, der unter anderem auf die Lebensphilosophie Nietzsches zurückgeht. Auf allgemeinerer geistesgeschichtlicher Ebene ist sie im Kontext der Neoromantik der Jahrhundertwende und des Aktivismus seit dem Ersten Weltkrieg zu sehen. Wie die Texte über das Ostjudentum zeigte die Neoromantik eine Hinwendung zu "Seele", "Ursprünglichkeit" und "Verinnerlichung", drängte der Aktivismus auf "Verwirklichung" und "Tat" und die Einbindung des Individuums in eine "Gemeinschah". Die jungjüdische Bewegung um Martin Buber und ihr Interesse an den Ostjuden sollte deshalb als Teil umfassenderer kulturkritischer Reformbestrebungen begriffen werden, welche die europäische Zivilisation erneuern wollten. Mit Hilfe des Ostjudentums wurde der Materialismus, der "seelenlose Rationalismus" und die Zweckgerichtetheit der mitteleuropäischen Moderne kritisiert, für welche die "verwestlichten" Juden als Symbole herhalten mußten. In seinem programmatischen Aufsatz "Jüdische Renaissance" wandte sich Buber nicht nur gegen die religiöse Orthodoxie des Ghettojudentums, sondern griff gleichermaßen die "Sklaverei der Geldwirtschaft", die Vereinzelung und "Seelenarmut" der verbürgerlichten Juden Europas an.56 Diese Zielrichtung erklärt auch das Wunschbild, das er mit dem Chassidismus verband. Wie die Chassidim gegen die erstarrte Lehre und den Rationalismus der rabbinischen Orthodoxie aufbegehrt und mit einer lebendigen "Beziehung zum Göttlichen im irdischen Leben Ernst"57 gemacht hätten, so sollte ein in die gemeinschaftliche Tat mündendes, verinnerlichtes Judentum der Erneuerung der modernen Kultur dienen.

Wie sehr das Ostjuden-Interesse im Rahmen eines allgemeinen Interesses (nicht nur) an (jüdischer) Mystik zu sehen ist, zeigt die Tatsache, daß Martin Buber im Jahre 1909 ein Buch über die "Ekstatischen Konfessionen" auch anderer Kulturkreise und Völker veröffentlichte. Der Mythos der Ostjuden stand überdies im Zusammenhang mit einer allgemeinen Hinwendung zum Orient und Asien vor dem Hintergrund der "Krisis der europäischen Kultur"58. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde Europa nicht nur für deutschjüdische Schriftsteller wie Theodor Lessing, sondern beispielsweise auch für Rudolf Pannwitz zum Missionsgebiet eines geistigen Asien gemacht.59 Für viele modernekritische Intellektuelle fungierten nicht nur "die Ostjuden", sondern auch "der Orient" und "Asien" als Metaphern für eine der pragmatischen Logik und Sachlichkeit entgegengesetzte "seelische Durchgeistigung".

Dabei haben nicht nur Martin Buber, sondern beispielsweise auch Jakob Wassermann die besonderen geistigen Potenzen des jüdischen Volkes darin gesehen, daß es unter dem Einfluß Europas und des Orients stehe. Das Heil könne von den Juden kommen, wenn sie Europa überwänden und sich am "Gehalt Asiens" orientierten, schrieb der spätere Monograph Bubers, Hans Kohn60. Auf Aufforderung Bubers erläuterte Jakob Wassermann für den Essayband "Vom Judentum" eine sich auf Juden und Judentum beziehende Stelle seines Büchleins "Der Literat. Mythos und Persönlichkeit" (Leipzig 1910) etwas näher. Er bestimmte den modernen Juden als vom Mythos losgelöstes, vereinzeltes Individuum bzw. als Europäer, Kosmopoliten und Literaten und hielt diesem den mythischen orientalischen Juden entgegen:

Er kennt seine Quellen und wohnt bei den Müttern, er ruht und schafft, jene sind die ewig wandernden Unwandelbaren. Er ist, in solcher Vollkommenheit gesehen, vielleicht mehr eine Idee als eine Erscheinung.61

 

Anmerkungen

* Erweiterte Fassung eines Vortrages zur "Jüdischen Woche in Leipzig" am 4.6.1997.

1 Sprachadel. Zur jüdischen Sprachfrage. In: Freistatt 1, 1913, S. 83-88 u. S. 137-145, hier: S. 137 f.

2 Was sind die Ostjuden? Zur ersten Information. Wien 1916. (Erstveröffentlichung in: Mitteilungen des Verbandes der jüdischen Jugendvereine Deutschlands, 5, 1914, H. 8.)

3 Der Verfasser ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Institutes für Germanistik der Universität Leipzig und hat eine Anthologie herausgegeben, welche die intensive Auseinandersetzung jüdischer Publizisten mit dem Phänomen des Ostjudentums umfassender zu dokumentieren versucht, als im vorliegenden Beitrag möglich ist. - Vgl. Ost und West. Jüdische Publizistik 1901-1928. Hrsg. v. Andreas Herzog. Leipzig 1997. Hier wurde auch Birnbaums Aufsatz "Was sind die Ostjuden?" wiederveröffentlicht (S. 9-25).

4 S. BERNFELD: Hebraeisch. In: Ost und West 1, 1901, H. 1, S. 34-42.

5 F. SCHACH: Der deutsch-juedische Jargon und seine Literatur. In: Ost und West. 1,1901, H. 3., S. 180-190.

6 Vgl. das so überschriebene Kapitel von Paul Mendes-Flohr über "Neue Richtungen im jüdischem Denken" in: Deutschjüdische Geschichte in der Neuzeit. Bd. lII Umstrittene Integration 1871-1918. Hrsg. v. Michael A. Meyer. München 1997, S.345-352.

7 Ein wichtiges Dokument für die Suche jüdischer Intellektueller nach einem verinnerlichten, geistig-kulturellen Judentum, das sich am Ostjudentum orientierte, war eine Essaysammlung, welche Prager Kulturzionisten in Zusammenarbeit mit Buber herausgaben: Vom Judentum. Hrsg. v. Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba. Leipzig 1913. Neben Hans Kohn, Robert Weltsch und Buber selbst gehörten die Schriftsteller Max Brod, Jakob Wassermann, Karl Wolfskehl und Arnold Zweig zu den Mitarbeitern. Mit Gustav Landauer und Nathan Birnbaum waren zwei profilierte Antizionisten beteiligt. - Vgl. Andreas Herzog: "Vom Judentum". Anmerkungen zum Sammelband des Vereins "Bar Kochba". In: Kafka und Prag. Colloquium im Goethe-lnstitut Prag 24.- 27. November 1992. Hrsg. v. Kurt Krolop und Hans Dieter Zimmermann, Berlin/New York 1994, S. 45-58.

8 Die Freistatt. Alljüdische Revue 1, 1913, S. 176-180.

9 Aus dem Merkblatt "Das jüdische Volkslied". In: F. M. KAUFMANN: Gesammelte Schriften. Hrsg. u. eingeleitet von Ludwig Strauß, Berlin 1923, 235-245, bes. S. 236 u. 241 (Erstveröffentlichung in: F.M.K.: Das jüdische Volkslied. Ein Merkblatt. Schriften des Ausschusses für jüdische Kulturarbeit, Berlin 1919 - auch in: Ost und West. - wie Anm. 2 - S. 145-154.

10 Über Mendele und die Übersetzbarkeit seiner Dichtungen (Bemerkungen zu einer Übersetzung). In: F.M.K.: Vier Essais über ostjüdische Dichtung und Kultur, Berlin 1919. S. 7-21, hier: S. 19, 21.

11 Im Rahmen dieses Beitrages muß es bei dem Hinweis auf Editionen von Micha Josef Bin Gorion (Micha Josef Berdyczewski), Chaijm Nachman Bialik, Mendele Mocher Sforim, Scholem Aljechem, aber vor allem des Klassikers der jiddischen Volksliteratur Jizchok Leib Perez belassen werden. Im Verlag R. Löwit maß man dem Ostjudentum auch theoretische Aufmerksamkeit bei. Im zionistischen Welt-Verlag veröffentlichten viele Autoren aus dem Kreis um die Freistatt. Am "Ostjuden-Boom" dieser Jahre waren mit Rütten & Loening, Insel und Georg Müller auch Verlage ohne dezidiert jüdisches Programm beteiligt.

12 Zit. nach einer grundlegenden Dissertation über den "Juden": E. LAPPIN: Der Jude. Monographie einer Zeitschrift 1916-1928. Jerusalem 1995, die sich auf ein Dokument im Zionistischen Zentralarchiv in Jerusalem (Z3/l 133) bezieht.

13 Der Jude 1,1916, H. 6, S. 354-357.

14 Der Jude 1,1916, H.2, S. 80-89.

15 Der 1871 in Malin bei Kiew geborene Horodezky hatte an den Höfen chassidischer Rabbis studiert und beschäftigte sich sein Leben lang mit den mystisch-religiösen Strömungen des Judentums. 1923 veröffentlichte er das vierbändige Werk "Der Chassidismus und die Chassidim". Er war Mitarbeiter der deutschsprachigen Encyclopaedia Judaica.

16 Der Jude 1, 1916/17, H. 10, S. 649-661. - auch in: Ost und West. - wie Anm. 2 - S.61-82.

17 Der Jude 3, 1918, H.8/9, S. 418-476.

18 In: Der Jude 4,1919/20, H. 10, S. 474-480.

19 S RAPPAPORT: Aus dem religiösen Leben der Ostjuden. Der Sabbat. In: Der Jude 1,1916/17, H.5/6, S. 340-346;2,1917, H.5/6, S.340-347; H.7, S. 57-464; 3, 1918/19, H.2, S.79-88; H.3, S.121-126; H.4, S.163-169; H.5, S.219-228; H. 12,S.565-574;4,1919, H.5, S.227-233; H.6, S.263-274; H.7, S.306-322; H.8, S.355-367;6,1921, H.2, S.109-121; H.3, S.159-167; H.4, S.230-240; H.5, S. 296-299; H.6, S.346-358; H.7, S.410-416; H.9, S.553-559; H.10, S.615-622.

20 Vgl. W. SENATOR: Sozialpolitik für die Ostjuden in Deutschland. In: Der Jude 6, 1921/22,S.73-76.

21 Vgl. Ostjuden in Deutschland. Schriften des Arbeiterfürsorgeamtes der Jüdischen Organisationen Deutschlands H. ll, Berlin 1921, S. 25 U. 38.

22 Paul Mendes-Flohr über die Begegnung mit den Ostjuden während des Ersten Weltkrieges, in: Deutschjüdische Geschichte in der Neuzeit Bd. IV. Aufbruch und Zerstörung 1918-1945. Hrsg. v. Michael A. Meyer, München 1997, S. 23.

23 S. BERNFELD: Die Kriegswaisen. In: Der Jude 1, 1916/17, S. 269-271, hier: S. 269f.

24 S. BERNFELD: Zum Problem der jüdischen Erziehung. In: Der Jude 1, 1916/17, S. 169-182, bes. S. 170 U. 182.

25 Der Jude 1, 1916/17, H. 1, S. 32-36, hier: S. 34 - auch in: Ost und West. – wie Anm. 2 - S. 106-113.

26 Gastspiele jüdischer Wanderbühnen vornehmlich in Berlin und Wien lassen sich bis zur Jahrhundertwende zurückverfolgen. Seit dem Ersten Weltkrieg wurden sie von namhaften Kritikern und Schriftstellern wie Alfred Kerr, Arnold Zweig, Joseph Roth oder Ernst Toller besucht, die in deutschen Zeitungen darüber berichteten. Obwohl die meisten "westlichen" Theaterkritiker, die für die osteuropäischen Bewohner beispielsweise des Berliner Scheunenviertel oder der Wiener Leopoldstadt gedachten Stücke nicht verstanden und Kritik an der pathetischen und oft dilettantischen Spielweise übten, zeigten sich alle tief beeindruckt. Oft hob man auch hervor, daß die Theaterstücke mit der Volkskultur des jüdischen Ostens vertraut machten. Auf die Rezeption von Aufführungen des jiddischen Theaters kann im vorliegenden Beitrag nicht eingegangen werden; an dieser Stelle sei jedoch auf einige ausgewählte Zeugnisse verwiesen, die in Ost und West. - wie Anm. 2 - S. 182-204 dokumentiert wurden: K. Pinthus: Jüdisches Theater. In: Leipziger Tageblatt und Handelszeitung, 17.1.1913; Mathias Acher (Nathan Birnbaum): Eine ostjüdische Bühne in Wien. In: Ost und West 2, 1902, H. 4, S. 235-240; A. Zweig: Erinnerung an die "Wilnaer". In: Ders.: Juden auf der deutschen Bühne. Berlin 1927, S. 268-275; J. Roth: Das Moskauer jüdische Theater. In: Ders.: Werke, Bd. 2. Das journalistische Werk 1924-1928, Köln, Amsterdam 1990, S. 675-681.

27 Rede über die jiddische Sprache. In: F. Kafka: Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß. Frankfurt a. M. 1983, S. 306-309 - auch in: Ost und West. wie Anm. 2 - S. 154-159.

28 Das ostjüdische Antlitz. Wiesbaden 1988, S. 135.

29 Reise in Polen. Solothurn 1968.

30 "Die Synagoge des Ostens", auch in: Ost und West. - wie Anm. 2 - S. 159-170.

31 Juden auf Wanderschaft. In: J. Roth: Werke 2. Das journalistische Werk 1924-1928. Hrsg. und mit einem Nachwort von Klaus Westermann. Köln 1989, S. 827-891, hier S. 839.

32 Gustav Landauer: Ostjuden und Deutsches Reich, In: Der Jude 1, 1916, H.7, 433-439. - auch in: Ost und West. - wie Anm. 2 - S. 84-94.

33 Der polnische Jude. In: Der Jude 1, 1916/17, H. 3, S. 149-156, hier: S. 155. - auch in: Ost und West. - wie Anm. 2 - S. 94-105.

34 Vgl. auch H. HAUMANN: Geschichte der Ostjuden. München 1990, S. 9 u. 56.

35 Steven A. ASCHHEIM: Brothers and Strangers. The East European Jew in German and German Jewish Consciousness, 1800-1923. Madison 1982, S. 252.

36 Sammy Gronemann hat dies nicht ohne Witz am Beispiel Berlins demonstriert. Die "noch ursprünglichen", armen Ostjuden wohnten zunächst im Scheunenviertel, im Osten der Stadt. von wo sie nach wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg strebten. Wenn ihnen dieser gelungen war, zogen sie in den vornehmen Westen der Stadt, von wo sie verächtlich, zuweilen aber auch mit Wehmut auf den Osten zurückblickten, aus dem sie einst selbst gekommen waren. (S. GRONEMANN Erinnerungen, zit. n. Jüdisches Leben in Deutschland. Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte im Kaiserreich. Hrsg. v. Monika Richarz, Stuttgart 1979, S. 407.)

37 Sander L. GILMAN: Die Wiederentdeckung der Ostjuden. Deutsche Juden im Osten 1890-1918. In: Beter und Rebellen. Aus 1000 Jahren Judentum in Polen. Hrsg. v. Michael Brocke. Frankfurt/M. 1983.

38 G. SCHOLEM: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Frankfurt a. M 1980, S. 377, auch S. 366 u. 368.

39 W. KAPLUN-KOGAN: Die jüdischen Wanderbewegungen in der neuesten Zeit (18801914) Bonn 1919, S. 117.

40 Nur insgesamt 15 000 russische Juden waren in den Jahren 1881-1908 nach Deutschland gekommen, was nur jeder hundertste Auswanderer war. Der Anteil der Zuwanderer aus den östlichen Kronländern Österreich-Ungarns war zwar höher - die meisten kamen aus Galizien - betraf aber auch nur jeden zehnten Emigranten. (KAPLUN-KOGAN - wie Anm. 39 - S. 113.)

41 Man kann davon ausgehen, daß sich in den Jahren 1904-1914 jährlich 100 000 allein in Hamburg einschifften, während in ganz Deutschland 1910 nur knapp 80 000 ausländische Juden lebten.

42 J. WERTHEIMER: Unwelcome Strangers. East European Jews in Imperial Germany. New York/Oxford 1987, S. 176-179.

43 Die 1921 vom Arbeiterfürsorgeamt veröffentlichte Schrift "Ostjuden in Deutschland" (Berlin 1921, S. 26) gibt eine Zahl von 30 000 an. Vgl. hierzu v.a. auch: L. HEID: Maloche - nicht Mildtätigkeit. Ostjüdische Arbeiter in Deutschland 1914-1923. Hildesheim 1995.

44 Ostjuden in Deutschland 1918-1933. Hamburg 1986.

45 L. HEID: Das Ostjudenbild in Deutschland. In: Neues Lexikon des Judentums. Hrsg. v. Julius H. Schoeps. Gütersloh/München 1992, S. 351.

46 Schon 1915 forderte der völkische Antisemit Georg Fritz ein Einwanderungsgesetz, das sich nach der Rasse- und Volkszugehörigkeit richtete und von "rassefremden, verjudeten Mongolen" sprach, die eine Gefahr für das deutsche Volk darstellten (Die Ostjudenfrage. Zionismus und Grenzschluß. München 1915). Unter dem Vorwand der Fleckfiebergefahr unterband die preußische Regierung von April 1918 bis Ende 1919 die jüdische Immigration aus dem Osten. 1920 erlebte eine vom "Deutschvölkische(n) Schutz- und Trutzbund" initiierte Kampagne gegen die Ostjuden ihren Höhepunkt. Im Preußischen Landtag beantragten die Deutschnationalen im November 1922 eine Debatte über die "Ostjudenfrage". Im Jahr danach kam es in Berlin und in Bayern zu pogromähnlichen Ausschreitungen.

47 F. GOLDMANN: Vom Wesen des Antisemitismus. Berlin 1920; Ders.: Polnische Juden. Berlin 1915; Ders: Die Stellung des deutschen Rabbiners zur Ostjudenfrage. Vorträge. Frankfurt a. M. 1916.

48 Vgl. auch: N. GOLDMANN: Zur Psychologie der Ostjuden. In: Süddeutsche Monatshefte 13,1915/16, H.5, S. 821-825.

49 Zu den deutschen Zionisten, welche die Sprach- und Interessensgemeinschaft von Juden und Deutschen beschworen, war auch der Herausgeber der Palästina-Zeitschrift "Volk und Land", Davis Trietsch. Er stellte heraus, daß nicht weniger als neun Zehntel der Juden zum engeren oder weiteren deutschen Sprachgebiet gehöre. In der deutschnationalen Monatsschrift "Der Panther" appellierte der zionistische Wirtschaftspolitiker an die deutschen Unternehmer, die Übersiedelung der Ostjuden nach Palästina durch deutsches Kapital zu unterstützen. Es müßte verhindert werden, daß die Ostjuden zu Feinden Deutschlands würden und nach England, Kanada, Frankreich und die USA statt nach Palästina auswanderten, wo sie deutsche Interessen vertreten könnten. (Die östliche Judenfrage. In: Der Panther. Deutsche Monatsschrift für Politik und Volkstum. Hrsg. v. Axel Ripke. 4,1916, H. 3, S. 335-350.

50 Das von 1916 bis 1920 vierzehntägig erscheinende Blatt war das inoffizielle Organ des Komitees und wurden von einem aus Zionisten und Nichtzionisten bestehenden Kreis herausgegeben, der das Engagement für die Ostjuden mit den Interessen Deutschlands verband. "Die Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und Literatur in Ost und West" erschien unter Mitwirkung von Hermann Cohen, Alexander Eliasberg, Adolf Friedemann, Eugen Fuchs und Franz Oppenheimer.

51 Deutsche Juden und polnische Juden. In: Der Jude 1,1916/17, S. 137-149, hier: S. 138.

52 Ostjüdische Arbeiter im Kriege. In: Volk und Land 1(1919), H. 27, Sp. 830-838 u. Sp. 866-878 - Auszüge auch in: Ost und West. - wie Anm. 2 - S. 113-127.

53 Aus dem Merkblatt "Das jüdische Volkslied" (Anm. 9), S. 237 u. 239.

54 Ostjüdische Proletarier in Deutschland. In: Der Jude 3, 1918/19, S. 512-523, hier: S. 514.

55 S. LEHMANN: Von der Straßenhorde zur Gemeinschaft. Aus dem Leben des "Jüdischen Kinderhauses" in Kowno. In: Der Jude Sonderheft 2,1926, S. 22-36, hier.: S. 23.

56 In: Ost und West 1,1901, H. 1.

57 M. BUBER: Mein Weg zum Chassidismus. In: Ders.: Werke. Bd. 3. Schriften zum Chassidismus. Heidelberg 1963, S. 961-973, hier S. 961. - auch in: Ost und West. - wie Anm. 2 - S. 131-144.

58 R. PANNWITZ: Die Krisis der europäischen Kultur. Nürnberg 1917.

59 Zum geistesgeschichtlichen Kontext: P. M LÜTZELER: Die Schriftsteller und Europa. Von der Romantik bis zur Gegenwart. München/Zürich 1992, S. 252-271.

60 H. KOHN: Geleitwort. In: Vom Judentum (wie Anm. 7). S. Vl.

61 Der Jude als Orientale. In Vom Judentum (wie Anm. 7), S. 7f.