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          Arno Lustiger 
        Rotbuch: Stalin und die Juden 
        von Andreas Herzog  
        Die tragische Geschichte des Jüdischen Antifaschistischen
        Komitees und der sowjetischen Juden - Aufbau, 1998, 429 Seiten 
        Deutschlandfunk, Büchermarkt
 
        Manuskript vom: 8.2.99
  
        Für Marx war die "Judenfrage"
        lediglich eine "Klassenfrage" und Lenin hielt die Idee
        einer jüdischen Nationalität schlicht für "reaktionär".
        Nach dem Oktoberputsch der Bolschewiki wurden die Juden allen
        Sowjetbürgern gleichgemacht, ob sie wollten oder nicht.
        Ihre Volkssprache, das Jiddische, konnten sie zwar vorerst weiterhin
        pflegen, sie sollte jedoch dem neuen System dienen. Zumindest
        der Antisemitismus - die rassistische Form der Judenfeindschaft
        - aber schien in der Sowjetunion Geschichte zu sein. 
        Daß dem nicht so war, weiß
        man spätestens seit den dreißiger Jahren, als die
        Mehrheit der jiddischen Publizisten den stalinistischen Säuberungen
        zum Opfer fiel. Anfang der fünfziger Jahre galt der Kampf
        den "Kosmopoliten" und meinte wiederum vor allem die
        Juden. Das läßt sich am Schauprozeß gegen die
        Kremlärzte nachweisen, der 1953 geplant wurde. Bis zu seinem
        Tod empfand Stalin ein tiefes Mißtrauen gegen die Juden,
        weil er sie verdächtigte, Agenten des Auslandes und des
        Klassenfeinds zu sein. 
        Der Frankfurter Publizist Arno
        Lustiger hat im letzten Jahrzehnt mit mehreren Veröffentlichungen
        Aufsehen erregt, in denen er die Legende widerlegt, daß
        sich das jüdische Volk widerstandslos von den Faschisten
        hinschlachten ließ. Im "Rotbuch. Stalin und die Juden",
        das im Berliner Aufbau-Verlag erschien, erzählt er die Geschichte
        der sowjetischen Juden, widmet sich aber ganz besonders dem Jüdischen
        Antifaschistischen Komitee, das 1942 gegründet wurde und
        die Juden des Westens zum Widerstandskampf gegen Hitler zu mobilisieren
        suchte. Zu seinen Mitgliedern zählten so bekannte Persönlichkeiten
        wie Ilja Ehrenburg, David Oistrach und Sergej Eisenstein. Im
        Laufe der Jahre sammelte es Millionen von Dollar für die
        Sowjetunion. 
        Lustiger zeigt, daß das
        Komitee von Anfang an von der Kommunistischen Partei und ihrem
        Geheimdienst gesteuert wurde, weil sich Stalin nach dem Bruch
        des "Nichtangriffspaktes" durch Hitler neue Verbündete
        suchen mußte. Mit dem Ende des Krieges hatte das Komitee
        jedoch seine Funktion erfüllt und Stalin ließ es liquidieren,
        als es ihm gefährlich zu werden begann. 
        Liquidiert wurde jedoch nicht
        nur eine Organisation, sondern auch deren Führer. Ihr Präsident
        - der Leiter des Moskauer jiddischen Theaters Salomon Michoels
        - wurde auf persönliche Anweisung Stalins ermordet. Fünfzehn
        ihrer Mitglieder machte man 1952 einen kurzen und geheimen Prozeß.
        Obwohl sich keiner schuldig bekannte und sogar der Richter zu
        zweifeln begann, wurden dreizehn Todesurteile vollstreckt. Eines
        der wichtigsten Projekte des Komitees war ein "Schwarzbuch",
        das die deutschen Verbrechen an den Juden auflistete. In der
        Sowjetunion ist es nie erscheinen, weil es das Schicksal des
        jüdischen Volkes in für Stalin fehlerhafter Weise zu
        seinem Gegenstand machte. 
        Antifaschistischer Widerstand
        war den Juden der Sowjetunion nur in dem Rahmen möglich,
        den ihm der Stalinismus ließ. Als die deutsche Wehrmacht
        immer näher rückte, wurden sich viele Bürger jüdischer
        Herkunft bewußt, daß sie einer Gemeinschaft angehörten,
        die mit Völkermord bedroht war. Wie Lustiger darstellt,
        tappten sie in eine Falle, die ihnen Lenins ehemaliger Nationalitätenkommissar
        Jahrzehnte zuvor gestellt hatte. Schon 1913 erklärte Stalin
        die Juden zu einer nationalen Minderheit, sprach ihnen aber gleichzeitig
        deren Rechte ab. 
        Der 1924 in Polen geborene Arno
        Lustiger kennt das Schicksal der europäischen Juden nicht
        nur aus den Archiven und der Geschichtsschreibung: Die KZs von
        Auschwitz und Buchenwald mußte er persönlich erleiden.
        Um so bewundernswerter ist die nüchterne Analyse, die er
        mit diesem Rotbuch vorgelegt hat. - Sie enthält
        sich jeglicher Polemik und nennt vor allem Namen und Fakten.
        Im Anhang finden sich knapp einhundert Kurzbiographien und Namenslisten
        jüdischer Schriftsteller, die ermordet wurden, gefallen
        sind oder Repressalien ausgesetzt waren. Schon nach dem Oktoberputsch
        von 1917 begannen die Bolschewiki alle jüdischen Parteien
        und Organisationen aus der Politik auszuschalten und die mosaische
        Religion zu unterdrücken. 
        Da mit der Bezeichnung "Jude"
        in der Sowjetunion seit dem oft nur noch "jüdischer
        Herkunft" gemeint war, werden Lustigers Absichten nicht
        immer ganz klar: Man muß sich fragen, warum er sich für
        den antifaschistischen Widerstandskampf von Sowjetbürgern
        jüdischer Herkunft interessiert, für die ihr "Judesein"
        meist keine Rolle mehr spielte. 
        Die Frage, ob Stalins Verbrechen
        mit denen Hitlers vergleichbar seien, beantwortet Lustiger jedoch
        sehr eindeutig und zwar mit einem klaren "Nein!". Stalin
        witterte in den Juden nur potentielle Feinde und nutzte den Antisemitismus,
        um seine politischen Gegner auszuschalten. Hitler ging es um
        weit mehr: um die Ermordung eines Volkes, das er selbst dazu
        erklärt hatte.  |