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     „Warnung vor der
    Literaturwissenschaft“ sollte dieses Einführungsbuch ursprünglich heißen.
    Daß es dann doch eine „Einladung“ geworden ist, verdanken wir der Tatsache,
    daß der Verfasser seinem Gegenstand nicht nur lebenspraktische, sondern
    auch vergnügliche Seiten abzugewinnen weiß. Der Peter Weiss-Spezialist und
    Erzähltextanalytiker Jochen Vogt arbeitet seit langem im Bewußtsein, daß
    sein Fachgebiet der Legitimierung bedarf. Seit drei Jahrzehnten beteiligt
    er sich an den Diskussionen über die Krise der Germanistik und verteidigt
    ihren Sinn. „Wie rettet man die Germanistik?“ fragte die FAZ schon 1969. „Vielleicht kann eine Verlagerung nach Ostasien
    die Germanistik retten“, schlug Die
    Zeit fünfzehn Jahre später vor. Noch in den Neunzigern wurde
    festgestellt, was im neuen Jahrtausend gültig bleibt: Germanistik scheint
    „aus Gewohnheit gelehrt“ und „aus Irrtum studiert“ zu werden, - zumindest
    in Deutschland. 
    Was der Auslandsgermanistik
    befremdlich erscheinen mag, ist im Inland die Frage nach der Notwendigkeit
    eines Faches, das trotz hoher Studentenzahlen und beeindruckend
    differenzierter Forschungsergebnisse immer marginaler zu werden droht. Das
    kann nicht nur darauf zurückgeführt werden, daß die Idee umfassender
    literarischer Bildung immer weiter an Boden verloren hat. Seit Jahren sieht
    sich die Literaturwissenschaft der Konkurrenz der Medienwissenschaft
    ausgesetzt. Auch ihre Bedeutung für die Deutschlehrer/innen –Ausbildung
    scheint weiter zu sinken. 
    Nach einer Einführung in diese
    Problematik, die berücksichtigt, was ein früherer Bundespräsident als Jurist
    und Textwissenschaftler zur Größe und Krise der Germanistik zu sagen hatte,
    kommt Vogt auf ein Fach zu sprechen, das sich von einer Nationalphilologie
    zum Mit- und Gegeneinander pluraler Methoden unterschiedlicher Provenienz
    entwickelt hat. Sein eigentlicher Gegenstand, die Texte, blieben ihm aber
    auch im Medienzeitalter erhalten. Als Kern literaturwissenschaftlichen
    Studiums sei deshalb die Interpretationspraxis zu betrachten (S. 45). Es
    gehe um plausible und nachvollziehbare Deutungen, deren Spielraum von sehr
    unterschiedlichen Kontexten bestimmt sein könne. 
    Die folgenden Ausführungen über
    Textstrukturen orientieren sich an den traditionellen Gattungen Epik, Lyrik
    und Dramatik, die freilich als historisch veränderlich zu betrachten seien.
    Wer Anleitungen für die Analyse von Metren oder Erzähltechniken sucht, wird
    auf Kaysers „Versschule“ oder Vogts „Aspekte erzählender Prosa“ verwiesen. Die unterschiedliche
    „Machart“ literarischer Texte wird nur an markanten Beispielen
    demonstriert. In jedem der 12 Kapitel finden sich jedoch weiterführende
    Hinweise auf eine Webseite: „www:
    uni-essen.de/literaturwissenschaft-aktiv/einladung.htm“  
    Die „Einladung“ ist eine
    Einladung zum kritischen Lesen von Texten, die sich nicht nur Germanisten
    empfiehlt. In „Von Lust und Frust der Lektüre“ (11. Kapitel) wird daran
    erinnert, daß das Fach vor lauter „Poetiken“ den Leser erst relativ spät
    entdeckte. Lesen war eine Kulturtechnik, die nur wenigen vorbehalten war
    und der Erziehung systemkonformer Untertanen diente. Für eine Einführung in
    die Literaturwissenschaft sind derartige Ausführungen ähnlich ungewöhnlich
    wie ein Zitat von Günter Netzer, das dem Buch als Motto dient: „Es gibt
    Fortschritte auf allen Gebieten.“ Vogt schließt mit einem Ausblick auf die
    Rolle der Literatur im Wandel der Medien, der die Schrift in neue Kontexte
    stellt.  
    Auch die Gestaltung des Buches
    animiert zur Lektüre. Ein journalartiges Layout bietet viele Abbildungen,
    interessante Textbeispiele und Zitate sowie grundlegende Definitionen. Auch
    ohne Hypertext-Funktion wird dieses Buch zu einem multimedialen Netzwerk.
    Man muß nicht alles lesen, kann sich leicht herauspicken, was einen
    interessiert.  
    Die „Einladung“ stellt sich
    auch einem Bereich, der in Deutschland eher ein kümmerliches Dasein
    fristet, im Ausland jedoch nicht selten für die Literaturwissenschaft
    selbst gehalten wird. In „Was heißt und zu welchem Ende studiert man
    Literaturgeschichte“ plädiert Vogt für eine „vorsichtig distanzierte
    Wiederannäherung“ an eine „Bildungsinstitution“ des 19. Jahrhunderts, die
    mit Recht in Verruf gekommen sei. Er empfiehlt Studienanfängern zumindest
    eine einbändige Literaturgeschichte zu lesen, um sich kritisch mit deren
    Konstrukten auseinanderzusetzen.  
    Und wie hält’s Vogt mit der
    Gretchenfrage der Literaturwissenschaft, der nach ihrer Methode? - In „Wie
    man eine Methode erkennt, wenn man ihr begegnet“ (S. 178-182) zeigt sich
    der Essener Professor als demokratischer Ideologiekritiker, der kein
    bestimmtes Verfahren propagiert. Er hält zu kritischer Reflexion über jede
    Methode an, was sich gegen theorielastige Programme richtet, die nur neue
    Deutungsmonopole an Stelle der alten stellen: „Lassen Sie sich nicht einschüchtern!
    Manche ‚methodisch‘ hochgeschraubten Programme führen, recht besehen, zu
    sehr bescheidenen Resultaten; und es ist noch der günstigere Fall, wenn man
    sieht: Das hätte ich mit gesundem
    Menschenverstand auch herauskriegen können!“ (S. 196)  
    Vogt weiß, was er schreibt, und
    bekennt sich dazu. In einem Nachwort an Freunde und Kolleg(inn)en betont
    er, daß er mit dem Vorwurf, er betreibe „common-sense-Literaturwissenschaft“, gut leben kann (S. 263) -
    unverstellte und klare Worte in einem gut lesbaren Buch, das man nicht nur
    Studienanfängern der Germanistik empfehlen kann. Als didaktisch geschickter
    Lehrer stützt sich der Autor auf die Intelligenz seiner LeserInnen, statt
    auf ein fachliches Vorwissen, das bei Erstsemestern ohnehin nicht vorhanden
    ist.  
    Andreas Herzog (Budapest/Leipzig) 
      
             
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